Zur Beherrschbarkeit nuklearer Waffen

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Eine zunehmende Anzahl an Atomwaffenstaaten einerseits und neue technische Entwicklungen andererseits könnten die Komplexität möglicher nuklearer Bedrohungssituation derart erhöhen, dass die Gesamtkonstellation mit Frühwarnsystemen und nuklearen Waffensystemen schwer beherrschbar wird. Die drei Punkte eines Zitats aus einem Buch über Sicherheitspolitik werden nachfolgend kommentiert.

Zitat aus einem Buch über Sicherheitspolitik

Zitat aus dem Buch „Sicherheitspolitik verstehen“ (2019) von Generalleutnant a.D. Kersten Lahl und Prof. Dr. Johannes Varwick, Seite 121 oder 3. Auflage (2022), Seite 130:

„Im Ergebnis lassen sich drei Folgerungen ableiten:

Zum ersten besitzen Nuklearwaffen ein Schadenspotenzial, welches das Überleben der gesamten Menschheit unter hohes Risiko stellt.

Genau deshalb konnten sie zweitens bisher eine eher krisenstabilisierende Rolle in der internationalen Praxis einnehmen – weil ein konkreter Einsatz für alle Seiten katastrophal wäre.

Es gibt aber drittens keine Garantie, dass dies immer so bleibt. Ganz im Gegenteil: Je mehr nukleare Akteure ‚mitspielen‘, je ausgereifter die technischen Entwicklungen werden und je komplexer sich damit das strategische Entscheidungsfeld um nukleare Einsätze und Einsatzdrohungen gestaltet, desto höher wird das Risiko einer mangelnden internationalen Beherrschbarkeit der Kategorie nuklearer Waffen.“

Kommentar zu den drei Punkten des Zitats

Erstens

Bei den Atombombenabwürfen 1945 bestand nicht das Risiko einer unkalkulierbaren Eskalation. Nur die USA verfügten damals über Atomwaffen. Wenn es heute zu einem Einsatz von Atomwaffen kommt, kann es innerhalb weniger Minuten zu einer Eskalationsspirale mit dem Abschuss vieler Atomwaffen kommen. Es kann schwer sein, einen solchen Prozess in der verfügbaren Zeit von wenigen Minuten zu stoppen und die Auswirkungen zu begrenzen.

Die direkten Folgen eines solchen Einsatzes sind seit 1945 bekannt. Weitere Folgen können ein EMP (elektromagnetischer Puls) mit der Zerstörung elektronischer Geräte sowie ein nuklearer Winter sein. Ein EMP könnte zum Ausfall wichtiger Infrastruktursysteme wie z.B. der Stromversorgung führen. Selbst ein begrenzter Atomkrieg, z.B. zwischen Indien und Pakistan kann nach neuesten Erkenntnissen der Klimaforschung zu einem lang anhaltenden nuklearen Winter führen, der die gesamte Erde erfassen und die Landwirtschaft weltweit ruinieren würde. Im Falle eines Atomkrieges geht es also um das Überleben der gesamten Menschheit.

Zweitens

Die Abschreckungs-Doktrin besagt, dass ein Ausbruch eines Atomkriegs dadurch verhindert wird, dass eine Zweitschlagfähigkeit besteht. Wer ange­griffen wird, kann den Einschlag von Atomwaffen abwarten und hat danach immer noch genug Zeit und Potenzial, einen vernichtenden Gegenschlag auszuführen. Im Schlagwort: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“. Bei einer gefährdeten Zweitschlagfähigkeit könnte auch auf Basis einer frühen Erkennung eines gegnerischen Angriffs ein Gegenschlag ausgelöst werden (bezeichnet als „Launch on Warning“), bevor die angreifenden Atomraketen einschlagen und eine Gegenreaktion erschweren oder verhindern. Zu diesem Zweck sind Frühwarnsysteme, basierend auf Sensoren und sehr komplexen Computer-Netzwerken entwickelt worden.

In Frühwarnsystemen kann es zu Fehlalarmen kommen, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können (z.B. Hardware-, Software-, Bedienungsfehler oder falsche Bewertung von Sensorsignalen). In Friedenszeiten und Phasen politischer Entspannung sind die Risiken sehr gering, dass die Bewertung einer Alarmmeldung zu einem atomaren Angriff führt. Die Situation kann sich drastisch ändern, wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden könnten. Auch wenn die Abschreckungsstrategie weitere bewusste Atomwaffeneinsätze bisher verhindert hat, schützt sie nicht vor einem Atomkrieg aus Versehen. In der Vergangenheit gab es einige Situationen, in denen es nur durch großes Glück nicht zu einem Atomkrieg aus Versehen kam.

Drittens

Es ist zu erwarten, dass das Risiko eines Atomkriegs in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark steigen wird. Der Klimawandel wird zu mehr Krisen führen und neue technische Entwicklungen werden die Komplexität von Frühwarnsystemen so stark erhöhen, dass die Beherrschbarkeit solcher Systeme immer schwieriger wird.

Der Klimawandel wird vermutlich dazu führen, dass verschiedene Regionen unbewohnbar werden und damit vermehrt Klimaflüchtlinge verursachen. Der verfügbare Lebensraum wird kleiner, wichtige Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser, knapper. Dadurch wird es in Zukunft häufiger politische Krisen und eventuell sogar kriegerische Konflikte geben. Als Folge werden Raketenangriffsmeldungen in Frühwarnsystemen deutlich gefährlicher.

In den letzten Jahren hat ein neues Wettrüsten in verschiedenen militärischen Dimensionen begonnen. Die meisten dieser Entwicklungen sind noch am Anfang und die Folgen kaum kalkulierbar.  Dies gilt für neue Trägersysteme von Atomwaffen, wie Hyperschallraketen, die geplante Bewaffnung des Weltraums, der Ausbau von Cyberkriegskapazitäten und die zunehmende Anwendung von Systemen der Künstlichen Intelligenz bis hin zu autonomen Waffensystemen. Alle diese Aspekte spielen auch in Frühwarnsysteme zu Erkennung von Angriffen mit Atomraketen rein und werden die Komplexität dieser Systeme deutlich erhöhen. Unkalkulierbar sind hierbei auch potenzielle Cyberangriffe, wobei Komponenten oder Daten eines Frühwarnsystems manipuliert werden könnten.

Die Weiterentwicklung von Waffensystemen mit höherer Treffsicherheit und immer kürzeren Flugzeiten (Hyperschallraketen) wird zunehmend Techniken der Künstlichen Intelligenz (KI)  erforderlich machen, um für gewisse Teilaufgaben Entscheidungen automatisch zu treffen. Es gibt bereits Forderungen in Zusammenhang mit Frühwarnsystemen autonome KI-Systeme zu entwickeln, die vollautomatisch eine Alarmmeldung bewerten und gegebenenfalls einen Gegenschlag auslösen, da für menschliche Entscheidungen keine Zeit mehr bleibt. Die für eine Entscheidung verfügbaren Daten sind jedoch vage, unsicher und unvollständig. Deshalb können auch KI-Systeme in solchen Situationen nicht zuverlässig entscheiden. In der kurzen verfügbaren Zeit wird es in der Regel auch nicht möglich sein, Entscheidungen der Maschine zu überprüfen. Dem Menschen bleibt nur zu glauben, was die Maschine liefert. Aufgrund der unsicheren und unvollständigen Datengrundlage werden weder Menschen noch Maschinen in der Lage sein, Alarmmeldungen zuverlässig zu bewerten.

Um einen Atomkrieg aus Versehen bei einem Fehlalarm in einer Krisensituation zu verhindern, müssen alle beteiligten Personen in der sehr kurzen Entscheidungszeit nach geltenden Regeln und logisch vernünftig handeln. Ein Beispiel für unvernünftiges Handeln in einer Krisensituation ist der versehentliche Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine im Januar 2020 durch den Iran. Rein logisch hätte dies nicht passieren dürfen, denn das Radarsignal war für einen Marschflugkörper zu groß und es gab einen gültigen und bekannten Flugplan der Passagiermaschine. Aber aufgrund des vorherigen Angriffs des Iran auf amerikanische Stellungen im Irak hatte der Iran mit einem Gegenangriff gerechnet. Und diese Erwartungshaltung war stärker als die rein logischen, sachlichen Aspekte.

Ein „Atomkrieg aus Versehen“ ist nicht direkt vorhersehbar. Wie bei sonstigen Unfällen in technischen Systemen gibt es keine Vorwarnung. Ein Atomkrieg aus Versehen kann plötzlich innerhalb weniger Minuten als Folge einer Eskalationsspirale und falscher Einschätzungen geschehen. Danach ist keine Korrektur mehr möglich. Bei normalen Unfällen werden hinterher oft Maßnahmen getroffen, um solche Risiken in Zukunft zu vermeiden. Nach einem atomaren Schlagabtausch wird es eine solche Zukunft kaum noch geben. Beim Atomkriegsrisiko können wir mit Maßnahmen zur Reduzierung dieses Risikos nicht warten, bis es einen ersten „Unfall“ in Form eines „Atomkriegs aus Versehen“ gegeben hat.